Von Vieren, die auszogen, das Fürchten zu lernen

Die Ausschreibung von Garci hat sofort mein Interesse geweckt: Brandungspaddeln Ostsee, 21./22.10.2017. Schon nach dem ersten Überfliegen des Textes stand fest, das Anforderungsprofil passt mir wie ein maßgeschneiderter Anzug: Gute Kondition (na klar), nicht schon nach 10 Minuten platt (müdes Lächeln), mehr an Schnellkraft und Kraftausdauer als beim Streckenpaddeln (wer die Scharfenbergrunde meistert...) sowie ein stetes Konzentrationsvermögen (Multitasking? Man(n) wächst mit seinen Aufgaben).

Seekajaken zählt ja zu den situativen Sportarten. Wegen der Abhängigkeit von Wind und Welle gilt das fürs Brandungspaddeln natürlich im Besonderen. Wohl deshalb wurden gleich drei alternative Surfspots mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen beschrieben: Neuhaus/Šwinoujšcie/Karlshagen (Subtext: Der Fahrtenleiter kennt sich aus, da bist du in guten Händen. Euphorisiert erschien vor meinem inneren Auge spontan diese erfolgreiche Powerfrau aus der Werbung. Wie sie in ästhetischer Zeitlupe aus ihrem Learjet aufs Rollfeld steigt, nur um beim lässigen Absetzen der Sonnenbrille durch Schütteln ihres Hauptes lächelnd Folgendes zu zeigen: Mit den passenden Accesoires hält die Frisur; selbst nach einem langen Tag - Neuhaus 8°C / Šwinoujšcie Regen / Karlshagen Sonne).

Na, wenn das kein Übergang zur richtigen Ausrüstung ist. Verlangt werden: Helm (Frisurschädlich!), Trockenanzug, Schwimmweste, geschottetes (See-)Kajak und robustes Paddel. Prima, das meiste davon wartet schon im Bootshaus auf seinen Einsatz. Was dort fehlt, lagert daheim. Schnell offiziell anmelden und den Termin im Kalender freihalten. Nun noch einen Wagen mit passendem System für meinen Dachgepäckträger reservieren und fertig. Kajaksport ist Autosport, leider. Also zumindest, wenn man mal von Rundfahrten ums Bootshaus absieht oder der genialen Erfindung des Faltboots. Die Lösung für radelnde Paddler wie mich bietet Car-Sharing; die erlauben nämlich den Transport von Dachlasten.

Das ersehnte Wochenende rückt allmählich näher. Die Anzahl der Mitstreiter/innen war mittlerweile arg geschrumpft: Familienpflichten, Erkältungswelle, Beine zu lang bzw. Vereinsboot zu kurz, Wasser zu kalt, Trocki passt nicht (also der noch zu erwerbende, denn die Plätzchenzeit war fern). Zu guter Letzt blieben bloß noch vier unerschrockene Gefährten: Garci, Britta, Steven und ich.

Alle Wetterberichte sagen das Gleiche. Das stabile Hoch bleibt standhaft und die Isobaren wollen einfach nicht enger zusammenrücken. Also Brandungspaddeln ohne Wind? Das wäre ja wie Kajaktransport ohne Auto. Daran hätte ich besser nicht mal denken sollen. Als ich gegen 21:30 Uhr den Stellplatz des von mir reservierten Opel Astra erreiche werde ich so blass wie der dort stehende nagelneue Kombi. Statt des erwarteten blauen Wagens überrascht mich ein Neuzugang Baujahr 2017; und zwar in weiß, der neuen Firmenfarbe. Natürlich hat Opel den Modellwechsel genutzt, um sein Dachsystem „weiter zu optimieren“. Na toll! Für Havariefälle gibt’s die 24/7-Hotline. Dort erhalte ich bloß die Auskunft, dass von den drei Kombis, die für mein Zeitfenster noch verfügbar sind, nur ein blauer dabei ist. Der letzte seiner Art steht am Hermannplatz in Neukölln. Ich buche also um und eile mit Bus und U-Bahn quer durch Berlin (mir kommt das Brettspiel „Scotland Yard“ in den Sinn). Nach zwei erfolglosen Runden auf dem Parkdeck des mir genannten Baumarktes steigt mein Blutdruck und ich in dessen Tiefgarage ab. Dort, in der hintersten Ecke, parkt Stevens und meine Rettung.

Nach kurzer Nacht montiere ich Samstag Früh den Dachgepäckträger und verstaue die obligaten IKEA-Taschen. Anschließend geht‘s zum TKV. Dort beratschlagen wir kurz und sind uns schnell einig. Wegen der anhaltenden Flaute fahren wir zum Fischerort Freest. Der liegt bei Usedom an der Mündung des Peenestroms. Unser Tagesziel befindet sich im Südosten der Insel Rügen. Dort wollen wir auf dem Campingplatz „Surf Oase“ in Klein Zicker übernachten. Die sich nach Süden erstreckende Halbinsel ragt als Haken in den Greifswalder Bodden bzw. die Ostsee. Wegen der exponierten Lage rechnen wir uns für ein Spiel in den Wellen am dortigen Südperd die besten Chancen aus.

Auf diese Weise können wir eine schöne Samstagstour mit der Hoffnung auf technische Spielereien am Sonntag kombinieren. Einziger Wermutstropfen: Bis unsere Boote und wir startklar sind, ist Mittag bereits durch. Wir müssen uns daher sputen, wenn wir die Zelte noch im Hellen aufbauen wollen. Britta möchte ihre Kräfte für die Wasserspiele am Sonntag schonen. Sie fährt deshalb als Vorauskommando mit dem Auto nach Rügen. Diese Variante eröffnet uns für den Rückweg einen Plan B. Sollte am Sonntag eine Querung über den Bodden nach Freest nicht möglich sein, könnten wir das dort geparkte Auto nachholen. Garci, Steven und ich kommen dadurch in den Genuss einer bequemen „Ohne-Gepäck-Tour“ (wie die Scharfenbergrunde - nur krasser, weil weiter draußen). Unsere gesamte Campingausrüstung fährt ja voraus. Das Wasser ist anfangs spiegelglatt und die Sicht sehr gut.

Greifswalder BoddenVor Greifswalder Oie

Deshalb paddeln wir nicht auf direktem Wege, sondern machen einen Abstecher. Es geht am Ruden vorbei raus zur Greifswalder Oie. Schon lange bevor wir sie als solche erkennen können, hören wir die Heuler der dortigen Kegelrobbenkolonie. Wir halten gehörig Abstand und machen auf der Sandbank vor der Hafenmauer beim Seenotrettungskreuzer Eugen kurze Rast.

Seenotkreuzer Eugen + 3 Seekajaks auf der Greifswalder OieDanach queren wir auf westlichem Kurs nach Rügen. Garcis Augen beginnen zu leuchten, als wir in die Bucht von Klein-Zicker einbiegen. Der Anlass ist rot und zieht wie ein Leuchtturm magisch an. Im Camp ist alles perfekt vorbereitet. Britta hat das Zelt bereits aufgebaut, Stevens und mein Gepäck ausgeladen sowie Schlüssel und Duschmarken organisiert. Erst kurz vor dem Anlanden nehmen wir wahr, dass bereits ein Dutzend Seekajaks bei der Surf-Oase liegt. Bis eben fühlten wir uns noch als Eroberer, denen in der Nachsaison das Meer allein zu gehören schien. Es sind jedoch gute Bekannte, die Falken vom Kleinen Wannsee. Eigentlich wollten sie zum Brandungspaddeln auf die Ostfriesische Insel Juist. Wetterbedingt haben auch sie kurzfristig umdisponiert. Den Abend lassen wir in einem urigen Fischrestaurant in Gager gemütlich ausklingen. Nach einem nächtlichen Sparziergang durch die Marina geht es zurück. Die Schlafsäcke locken.

Sonntag Morgen startet mit Regenschauern. Der damit einhergehende Wind hat kleine Wellen geformt, die nach und nach an Größe zunehmen. Gestärkt vom Frühstück zieht es uns aufs Wasser. Britta ist mit von der Partie und testet ihr Boot voll aus. Steven und Garci sind nicht zu bremsen und machen sogar Wiedereinstiegsübungen. Als unsere Arme schließlich lang werden, zeigt mein GPS gut 8 km Strecke. Dabei haben wir bloß nach Jojo-Manier in Strandnähe gespielt. Nach einer späten Mittagspause geht es dann wieder heimwärts. Britta und Garci nehmen das Auto, Steven und ich queren diretissima zurück. In Freest werden wir schon von unseren beiden Sherpas erwartet. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe denke ich mir: Was für ein tolles Wochenende. Alles völlig anders gelaufen als ursprünglich geplant. Aber vielleicht gerade deshalb so reizvoll.

Karte Freest - Ruden - Greifswalder Oie - Rügen